Piaget und die Pädagogik |
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| 1929 konnte Jean Piaget als ausserordentlicher Professor für Wissenschaftsgeschichte nach Genf zurückkehren. Von 1921 bis 1925 war als er als "chef de travaux" am Institut Jean-Jacques Rousseau (IJJR) tätig, musste dann aber gehen, weil zuwenig Geld vorhanden war. Damit Piaget 1925 in Neuenburg unterkam, wurde die Professur seines Lehrers Arnold Reymond geteilt. Pierre Godet, wie Piaget Sohn eines Professors von Neuenburg, übernahm die Geschichte der Philosophie, und Piaget unterrichtete Psychologie, Philosophie der Naturwissenschaften und Soziologie. Daneben verarbeitete Piaget die Beobachtungen seiner Kinder zu einer Entwicklungstheorie der frühen Kindheit und nahm seine experimentellen Studien mit den Mollusken wieder auf (die er trotz seiner Dissertation in diesem Gebiet seit zehn Jahren liegengelassen hatte), um eine neue Evolutionstheorie zu begründen. Gleichzeitig studierte er Wissenschaftstheorie und -geschichte und beschäftigte sich mit soziologischen und religionspsychologischen Theorien und der Moralentwicklung. Pädagogische Fragestellungen interessierten ihn erst, als er als Direktor des Bureau International d'Education (BIE) nach Genf zurückkam. Das BIE wurde 1925 vom IJJR gegründet, nachdem Piaget Genf verlassen hatte. Seit 1880 hatte es mindestens 15 Initiativen zur Errichtung einer internationalen Erziehungsinstitution gegeben. Zwar hatte Adolphe Ferrière auf Anregung von Edmond Demolins bereits 1899 das Bureau International des Ecole Nouvelle (BIEN) gegründet, das zu einer wichtigen Dokumentationsstelle für reformpädagogische Schulen und Heime wurde, welche Ferrière nach einer Punkteliste bewertete. Aber 1918 zerstörte ein Brand einen Grossteil von Ferrières Archiv, und dem Alleinunternehmen fehlten die finanziellen Ressourcen, weshalb auch nur wenig publiziert werden konnte. 1923 wurde das BIEN deshalb in das IJJR integriert, nachdem man am 3. Internationalen Moralerziehungskongress in Genf 1922 (unter dem Vorsitz von Ferrière) die Gründung eines internationalen Erziehungsbüros in Den Haag beschlossen hatte. Im Einverständnis des Exekutivrates übernahm Ferrière im Herbst 1924 die Aufgabe, ein solches Büro in Absprache mit Institutionen des Völkerbundes zu organisieren. Aufgrund der Beschränkungen beim Völkerbund prellte das IJJR vor und beschloss die Gründung eines privaten Erziehungsbüros, nachdem die Laura Spelman Rockefeller Memorial Foundation Ende 1925 einen Beitrag von $5000 zusagte. Piaget gehörte zum Initiativkomitee des BIE, das in die Lokalitäten der IJJR an der 4, rue Charles-Bonnet integriert wurde. Um die Kontrolle der internationalen Institution zu sichern, legte man fest, dass mindestens die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungsrates ihren Wohnsitz in Genf haben müssen. In Anbetracht der vollendeten Tatsachen hiessen die 400 Teilnehmer des 4. Internationalen Moralerziehungskongress in Rom 1926 den Transfer von Den Haag nach Genf gut. Genf zählte damit zu den bedeutendsten Zentren der Reformpädagogik, zusammen mit dem Teacher's College in New York (wo John Dewey, William Heard Kilpatrick und Edward Thorndike wirkten), dem London Day Training College (dem späteren Institute of Education in London von Percy Nunn) und der Haute Ecole de Pédagogie in Brüssel (mit Ovide Decroly). Nach drei Jahren, in denen das BIE Ausstellungen, Kongresse und Konferenzen organisiert und Studien durchführt hatte, war es so hoch verschuldet, dass seine Existenz auf dem Spiel stand. Da Deutschland das BIE unter der Bedingung, dass es nach Berlin verlegt würde, finanzieren wollte, entschied sich die Rockefeller Stiftung zu einer weiteren Subventionierung, verlangte aber, dass daraus eine zwischenstaatliche Institution werde, um den nationalistischen Tendenzen zuvorkommen. Gleichzeitig gelang es dem 1928 zum Vizedirektor ernannten Pedro Rossello, den Kanton Genf zu überzeugen, das BIE auf anderer juristischer Basis mitzufinanzieren. Rossello wurde die treibende Kraft und der wesentliche Historiograph des BIE. Erneut wurden in Windeseile Tatsachen geschaffen, um den Widerstand des Völkerbundes und anderer Organisationen auszutricksen. Die Erziehungsministerien von Polen, Ecuador und dem Kanton Genf sowie das IJJR unterzeichneten am 25. Juli 1929 die Neugründung als intergouvernamentale Behörde. Die Übernahme der Direktion des BIE stellte Piaget später so dar, als hätte er keinerlei Ambitionen gehabt: "En 1929 j'acceptai imprudemment la charge de directeur du Bureau international d'éducation, cédant à l'insistance de mon ami Pedro Rossello" (Piaget 1976: 17). Trotz seiner angeblichen Unvorsichtigkeit leitete er das BIE jedoch 39 Jahre lang, repräsentierte es auf den reformpädagogischen Kongressen und den Konferenzen des Völkerbunderbundes und der UNESCO, organisierte Forschungen, Publikationen und jährliche Konferenzen und schrieb dafür die summarischen Schlussberichte. Dies tat er in der Hoffnung "to contribute toward the improvement of pedagogical methods and toward the official adoption of techniques better adapted to the mentality of the child" (Piaget 1952/1: 131). Piaget wollte nicht bloss die 'Education nouvelle' mithilfe seiner Kinderpsychologie wissenschaftlich begründen, sondern auch ihre politische Durchsetzung auf internationaler Ebene fördern. Ein zweites Ziel war die Propaganda für den Völkerbund, um den Frieden zu sichern. Seit 1928 organisierte das BIE den Sommerkurs Comment faire connaître la Société des Nations et développer l'esprit de coopération internationale' für Lehrer, Schuldirektoren, Inspektoren und Behördenmitglieder. Zudem wurden eine permanente Ausstellung und eine Sammlung von Kinderbüchern über andere Länder eingerichtet. Eine Befriedung der Welt ist nach Piaget ohne die Schule nicht denkbar. Das zentrale Ziel des BIE bestand in der Beschaffung und Aufbereitung von Informationen, die den Erziehungsministerien helfen, Reformen im Sinne der Reformpädagogik und des Völkerbundes durchzusetzen: Verbesserung der Bildungssystems, internationale Kooperation und Friedenssicherung. Dazu wurden Erhebungen bei den Mitgliedsländern über den Zustand und die Bedingungen des Unterrichts und Studien durchgeführt. Die ersten Untersuchungen behandelten Alle vier Monate wurde ein Bulletin herausgegeben, das die Ergebnisse der Forschungen enthielt und die Arbeit dokumentierte. Fünf Jahre nach seiner Gründung war das BIE allerdings noch wenig bekannt, obwohl sich Piaget in reformpädagogischen Kreisen engagierte. Er war Mitglied des Verwaltungsrates der New Education Fellowship' und hielt Vorträge an den letzten Kongressen der New Education in Helsingör/Dänemark (1929), Paris (1930) und Nizza (1932). Dabei vertrat Piaget im wesentlichen die Positionen von Pierre Bovet, Edouard Claparède und Ferrière. Als wichtigstes Ziel der Erziehung bestimmte Piaget, dass selbstbestimmte, zur Kooperation fähige Persönlichkeiten herangebildet werden sollen: "Persönlichkeit ist der Gipfel der Sozialisation, Persönlichkeit ist das disziplinierte Ich, das zur mühseligen Herausbildung von Gesellschaft seinen Beitrag leistet, wohingegen das präsoziale Ich nichts weiter als das anomische Bewusstsein des Kleinkindes ist, das durch Erziehung gezähmt werden soll" (Piaget 1935/4: 185). Das entsprach seinem eigenen Lebensstil und seinem calvinistisch geprägten Umfeld. Wie Emile Durkheim bestimmte Piaget die moralischen Regeln als Kitt der Gesellschaft. Die Gesellschaft wird verstanden als Summe der sozialen Beziehungen und Handlungen, die sich in sozialen Organisationsformen konkretisieren. Die Soziologie wird also handlungstheoretisch begründet, wobei die Verhaltensregeln das Fundament der Gesellschaft bilden. Durkheim beschrieb den Wandel von einer archaischen zu einer modernen Gesellschaft im wesentlichen als eine Entwicklung einer kollektivistisch-religiösen zu einer individualistisch-weltlichen Moral. Piaget übernahm nicht nur Durkheims Beschreibung des sozialen Wandels, sondern auch dessen Befürchtung, dass eine zu weitgehende Arbeitsteilung und zu schnelle Individualisierung die Existenz der Gesellschaft gefährde. Es sei deshalb "jetzt unsere erste Pflicht, uns eine Moral zu schaffen. Unser Gleichgewicht ist bedroht: wir müssen ein inneres Äquivalent für die dem Konformismus eigentümliche äussere Solidarität finden" (Piaget 1932: 387). Die zentrale Aufgabe der Familie liegt laut Piaget in der Moralbildung, denn wenn die Wertevermittlung nicht gelinge, drohe Egoismus und Individualismus. Für Durkheim war Moralerziehung im wesentlichen die Anpassung des Verhaltens an die sozialen Regeln mittels Zwang. Zwang sei der grundlegende soziale Tatbestand, da moralische Regeln einen objektiven, unpersönlichen und imperativen Charakter hätten. Piaget widersprach Durkheims Erklärung, dass die Moral über Zwang gebildet werde, weil damit die Entstehung des Pflichtgefühls nicht zu verstehen sei. Diese Theorie sei die Konsequenz von Durkheims fehlender Unterscheidung zwischen Realität und Ideal. Piaget rekurrierte auf die 1925 von André Lalande getroffene Unterscheidung von tatsächlicher und idealer Gesellschaft: Die gelebten Sitten der Gesellschaft bilden die konstituierten Regeln', die Piaget mit der Pflicht identifizierte. Sie beinhalten die von aussen an das Indiviuum herangetragenen Erwartungen, den sozialen Zwang. Dagegen verkörpern die konstituierenden Regeln' das moralische Ideal. Dieses Ideal habe eine Wirkung auf die Realität, weil die Vernunft zum moralischen und intellektuellen Gleichgewicht hinstrebe. Entwicklung bedeute also moralischen Fortschritt. "So läutern sich allmählich die Sitten, indem sie von einem Ideal beeinflusst werden, das über der Sitte steht" (Piaget 1932: 76). Disziplin hiess für Piaget also mehr als nur Anpassung an den äusseren Zwang. Sie ist die erfolgreiche Synthese der Eingliederung in die Gemeinschaft und der Einsicht in die Notwendigkeit der Normen und des gegenseitigen Respekts. Damit folgt Piaget der Sittenlehre Kants, wonach es eine rationale Begründung der Normen und die freiwillige Unterwerfung unter diese brauche. Dieses Ziel, autonome Bürger zu erziehen, sei bisher kaum erreicht worden: "Man weiss, wie wenig autonome Erwachsene es gibt, wie mangelhaft unsere Pädagogik ist, wenn man das Leben zum Kriterium nimmt" (Piaget 1928/2: 73). Schuld ist die autoritäre Erziehung: Da die Kinder gehorchen müssen, vernachlässigen sie ihr Reflexions- und Kritikpotential, und da sie die fertigen Lösungen der Erwachsenen übernehmen müssen, verkümmert ihre Kreativität. Ein weiteres Erziehunsziel muss also darin bestehen, kritische, kreative und eigenständige Forscher hervorzubringen. Nun ging aber auch Piaget von einem zwangsläufig hierarchischen Verhältnis von Erzieher und Kind aus, was bewirke, dass das Kind nicht sich selbst sein könne, wenn Eltern oder Lehrer präsent sind. Zudem könnten diese die Kinder kaum verstehen, weil sich das kindliche Sehen und Denken vom Erwachsenen radikal unterscheidet, wie Piaget in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau postulierte: "L'enfant a des intérêts propres, une activité propre, une pensée propre, et, pour éduquer, il faut partir de là" (Piaget 1925/2: 464). Der zentrale Fehler der traditionellen Pädagogik bestehe darin, dass sie "dem Kind eine identische geistige Struktur wie dem Erwachsenen, jedoch eine verschiedene Funktionsweise zuschrieb. [ ] Nun, genau das Gegenteil ist richtig" (Piaget 1939/3: 155f). Piagets Rousseauismus äussert sich auch darin, dass er von einer ursprünglichen psychologischen Neigung des Kindes zur Zusammenarbeit ausging. Dabei sei das Kind bei der Geburt jedoch noch kein soziales Wesen. Es werde erst sozial, indem das biologisch gegebene Verhalten von sozialen Einflüssen überlagert wird. Ist der ursprüngliche Solipsismus überwunden, unterliege das Kind zwei Sozialisationsfaktoren: dem Zwang, der Beziehung zwischen Individuen auf der Basis von Autorität oder Prestige, und der Kooperation, der Beziehung auf der Basis von Gleichheit. Den Ausgangspunkt für die Erziehung bilden also drei Gruppen von Gegebenheiten: der Autismus, der soziale Zwang und die Zusammenarbeit" (Piaget 1928/2: 66). Die psychologische Ergänzung zu Durkheim fand Piaget bei seinem
langjährigen Mentor Bovet. Im Gegensatz zu Immanuel Kant, der im
Respekt ein Resultat des moralischen Gesetzes sah, betrachtete Bovet den
Respekt als Voraussetzung der Moral. Der Respekt ensteht aus Furcht und
Liebe und ist die Basis, damit Weisungen (consignes') als Regeln
anerkannt werden. Die Summe der erhaltenen und akzeptierten Ge- und Verbote
macht das Pflichtbewusstsein aus. Piaget differenzierte Bovets Theorie,
indem er zwei Arten des Respekts unterschied: Der unilaterale Respekt
ist ein Zwangsverhältnis, das die Eltern-Kind-Beziehung dominiert
und nur zur Ausbildung einer oberflächlichen Moral führt. Der
reziproke Respekt (zwischen gleichaltrigen Kindern) führe dagegen
zur Entwicklung einer inneren, echten Moral. Diesen beiden Arten von Respekt
entsprechen die heteronome Moral und die autonome Moral. Letzte wird dank
der Kooperation selbst gebildet, was Piaget beim Murmelspiel untersuchte:
Dass Piaget mit dem soziologischen Begriff des Zwangs die hierarchische
Eltern-Kind-Beziehung bezeichnete, während die Beziehungen der Kinder
untereinander egalitär und kooperativ seien, hat auch biographische
Hintergründe: Die Härte seiner protestantischen Erziehung und
die Erfahrungen im Jugendklub der Naturfreunde bildeten die beiden Beziehungsmodelle,
aus denen er seine Moralbegriffe ableitete aktives, spannendes Forschen <=> passive, langweilige Rezeption Neben dem Postulat der inhärenten Aktivität (dem élan vital' von Bergson) ist Spontaneität' der zweite Schlüsselbegriff in Piagets pädagogischer Anthropologie. Das natürliche aktive und spontane Lernen manifestiert sich einerseits im kindlichen Spiel und andererseits im Experimentieren. Deshalb sollen die Schüler nicht durch Vermittlung (Erklärungen des Lehrers und aus Büchern), sondern durch Hypothesenbildung und Verifizieren lernen. Die traditionellen Schulen präsentierten "les connaissances à acquérir sans relation avec les intérêts de l'enfant, avec l'action proprement dite. Bien plus (et ceci accentue ce défaut de signification pour l'élève) elles les présente isolément et analytiquement. Il y a des leçons de grammaire, d'arithmétique, de géographie, etc., mais sans lien, sans que l'enfant comprenne ni les connexions intimes de ces branches entre elles ni par conséquent leur rapport avec la vie elle-même. Pour comble, l'horaire est morcelé: à chaque heure il s'agit de changer complètement d'orientation" (Piaget 1939/4: 4). Piaget wiederholte damit die Kritik (die in Genf seit Théodore Flournoy prominent vertreten wurde), gegenüber den Staatsschule, welche durch den dirigistischen und lehrerzentierten Unterrricht das Potential der Schüler vernachlässigen und unselbständige, ungebildete und autoritätsgläubige Menschen heranzüchten würden. Auch Piaget war gegenüber Lehrern und Eltern nicht zimperlich in seiner Wortwahl und beklagte die grosse Anzahl der psychologischen Widersinnigkeiten der Eltern': Etwa die Blosstellung der Kinder, "die Vielfalt der Weisungen (die Durchschnittseltern' sind wie die schlechten Regierungen, die sich auf die Anhäufung von Gesetzen beschränken, unbekümmert um deren Widersprüche und der aus dieser Anhäufung sich ergebenden wachsenden Geistesverwirrung), die Lust am Bestrafen, die Freude, von seiner Autorität Gebrauch zu machen und jener Sadismus, den man so oft, sogar bei den brävsten Menschen findet, die es sich zum Prinzip gemacht haben, dass man den Willen des Kindes klein kriegen muss' oder, dass man das Kind empfinden lassen muss, dass es einen höheren Willen als den seinen gibt'" (Piaget 1932: 217f). Eine optimale Förderung des Kindes gelinge nur, wenn man, wie er in Anlehnung an Francis Bacon schreibt, "die Natur lenkt, indem man ihr gehorcht', d.h. indem man den Erkenntnissen der Kinderpsychologie folgt" (Piaget 1931/3: 101). Das ist aber eine offensichtlich problematische Angelegenheit, denn der "Unterricht muss entwicklungspsychologisch zur rechten Zeit kommen, dann nämlich, wenn das Interesse des Kindes bereits da ist. [ ] Eine Lektion trägt in der Tat nur dann Früchte, wenn sie einem Bedürfnis entspricht, und sie entspricht nur dann einem Bedürfnis, wenn die Kenntnisse, die sie bringt, einer vom Kind erprobten und spontan erlebten Wirklichkeit entsprechen" (Piaget 1931/3: 78f). Erfolgreicher Unterricht kann nur das bewusst machen, was das Kind auf der praktischen Ebene schon kann. Der Lehrer muss also abwarten, bis das Kind etwas kann, um es dann zu thematisieren und zu konsolidieren. Der Erzieher in der Konzeption Piagets steht deshalb in einer paradoxen Situation, die Hans Aebli als "Kann-noch-nicht-Braucht-nicht-mehr-Antinomie" bezeichnete. "Wenn Piaget in seinen genetischen Untersuchungen nachweist, dass in einem bestimmten Alter eine Operation vorhanden ist, so braucht sie dem Kind nicht mehr beigebracht zu werden. Wenn die Operation aber noch nicht vorhanden ist, so kann sie ihm noch nicht beigebracht werden" (Aebli 1963: 88). Um diese paradoxe Situation zu lösen, empfahl Piaget eine möglichst natürliche' Umgebung herzustellen. Es ist also nicht erstaunlich, dass der Unterricht bei Piaget nur einen beschränkten Einfluss auf die Entwicklung hat. Vor allem die Sprache und die gewöhnlichen Arten des Denkens' werden durch die Umgebung als Ganzes festgelegt, ohne dass die Schule eine wesentliche Rolle spielt (1950 III: 179). Deshalb unterstützte Piaget die Einrichtungen wie die Pfadfinder oder die Ligue de Bonté. Als Vorläufer der neuen Methode galten Piaget (1939/3, 1957/1) Sokrates, Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel und Herbart. Diese grossen Klassiker der Pädagogik hätten zwar keine adäquate Theorie der geistigen Entwicklung vorlegen können, aber die Aktivität und Eigenständigkeit des Schülers sowie die Klasse als echte Gemeinschaft betont. Damit hätten sie bereits intuitiv wahrgenommen, was die Psychologie des 20. Jahrhunderts systematisch ausarbeitete und empirisch überprüfte. Erst die genetische Psychologie enthalte eine "echte Embryologie der Intelligenz und des Bewusstseins" (Piaget 1939/3: 145) und begründe damit die neue Erziehung. Piaget konstruierte damit eine Geschichte der Pädagogik, die auf die Überwindung ihrer Unwissenschaftlichkeit durch die Psychologie hinausläuft. Als Meilensteine dieser Psychologisierung der Pädagogik betrachtete er James, Stanley Hall, Baldwin und Dewey in den USA, Bergson, Binet und Janet in Frankreich, die Würzburger Schule um Karl Bühler in Deutschland sowie Flournoy, Claparède und Bovet in der Schweiz. Verwirklicht worden sei die Neue Erziehung' mit den individualisierenden Methoden von Maria Montessori in Italien, von Ovide Decroly in Belgien und am Maison des Petits des IJJR. Wichtige Impulse für die Entstehung dieser Methoden identifizierte Piaget auch in der amerikanischen progressive movement': dem Daltonplan von Helen Parkhurst, der Schule in Winnetka unter der Leitung von Carleton Washburne und der von Dewey inspirierten Projektmethode. Aber die Individualisierung sei nicht das einzige Prinzip, denn "tout appel à l'activité libre conduit nécessairement au travail par groupes ou au self government" (Piaget 1939/4: 10), also die Partizipation der Schüler an der Schulgestaltung. Autonomie und Gegenseitigkeit bildeten die beiden ergänzenden Aspekte der neuen Erziehung, weil hier die Kinder sich selbst erziehen'. Das BIE untersuchte ab 1929 (veröffentlicht 1935) die Praxis der Gruppenarbeit, wobei 16 Länder von 518 Experimenten berichteten. Der Hauptvorteil dieser Methode liege im Erwerb der Arbeitstechnik und der besseren Lerneffizienz. Bei kleinen Kindern sei die Gruppenarbeit aufgrund der "verworrenen Kontakte" (Piaget 1939/3: 179) nicht möglich, sondern erst ab 8-10 Jahren. Piaget plädierte jedoch nicht für permanente Gruppenarbeit, sondern empfahl "die notwendige Ausgeglichenheit zwischen den kollektiven und den individuellen Aspekten der geistigen Arbeit" (Piaget 1965/1: 87). Was der Gruppenunterricht durch gegenseitige Anregung auf der intellektuellen Ebene bewirke, das soll Selbstverwaltung im sozialen und moralischen Bereich anstreben: durch das Aushandeln der eigenen Regeln und Sanktionen entwickelten die Schüler "une solidarité nouvelle, un sentiment de l'égalité et de la justice" (Piaget 1939/4: 13). Auch zum Self government' publizierte das BIE 1934 eine Studie. In seinem Beitrag versuchte Piaget die Vielfalt der self government-Methoden zu strukturieren, indem er drei Anwendungsbereiche unterschied: zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Älteren und Jüngeren (wie bei den Pfadfindern) und im Führerprinzip unter Gleichaltrigen. Für Piaget war das Führerprinzip kein Widerspruch zur Idee des self-government. Sowohl die demokratischen wie die faschistischen Staaten könnten diese Methode in ihren Bildungssystemen einsetzen. Vier Jahre zuvor hatte Piaget diese Methode noch verknüpft mit dem "besoin d'égalité" (Piaget 1930/2: 57). Dieser öffentliche Positionswechsel Piagets hatte einerseits damit zu tun, dass sich die faschistischen Vertreter im BIE von den politischen Intentionen der Genfer distanzierten. Andererseits gab es in Genf selbst politischen Widerstand gegen die pädagogischen Ziele des IJJR. Bevor Piaget nach Genf zurückgekommen war, hatte Robert Dottrens
in seinem Buch Education nouvelle en Autriche die Schulreformen im roten
Wien' gelobt. Im Vorwort dieses Buches hatte Bovet den Vorbildcharakter
Wiens für die Reform der Genfer Schule unterstrichen. Auch Piaget
hatte beipflichtet, dass "l'idéal nous paraît être
ce qui se passe à Vienne et que nous voudrions réaliser
en Suisse" (Piaget 1928/3: 55). Das IJJR betrachtete die Schule als
politisches Instrument zur Gesellschaftsreform, und die Revolutionsrhetorik
liess bei Konservativen die Alarmglocken läuten. Sie kritisierten,
dass die Versuchsschule des IJJR die Disziplin vernachlässige, das
Institut spekulative Forschungen betreibe und sich als Propagandaorgan
des Roten Wiens' betätige. Trotz dieser Kritik wurde das IJJR
1929 als Institut des sciences de l'éducation' an die Genfer
Universität angegliedert und weiterhin subventioniert. Piaget hoffte anfänglich zu Beginn der 30er Jahre noch, die ökonomische und politische Krise liesse sich mit der Erziehung überwinden: "Plus que jamais depuis la guerre notre civilisation est au point critique [ ] Plus que jamais la conviction s'impose que l'éducation seule remédiera au mal" (Piaget 1931/7: 42). Angesichts der politischen Entwicklung wurde es jedoch schwierig, an die Wirksamkeit der Friedenserziehung zu glauben. Drei Jahre später fragte er, ob man nicht besser ehrlich genug sein sollte, den Bankrott einer solchen Erziehung einzugestehen (Piaget 1934/3: 171). Kurz darauf gab er diese Hoffnungen auf und kümmerte sich kaum mehr um die Pädagogik. Wie beim IJJR änderte Piaget auch das öffentliche Auftreten
des BIE: Es sollte nicht mehr als Instrument der Education nouvelle, sondern
als reines Informationsorgan wahrgenommen werden, "ohne für
oder gegen irgendein erzieherisches Verfahren Partei zu ergreifen"
(Piaget 1934/2: 148). Aus Angst, dass das BIE weiterhin als Propagandainstrument
verstanden werden könnte, betonte Piaget die Gemeinsamkeiten der
pädagogischen Probleme und Intentionen in den verschiedenen Ländern:
"In der Tat, gleichgültig welches soziale Ideal man den Schülern
einzuschärfen versucht, - vom individualistischen Liberalismus bis
hin zu den autoritären Systemen - das Generationenproblem bleibt
das gleiche" (ebd: 149). Mit dieser Betonung der Neutralität
wollte Piaget die finanzielle Unterstützung sicherstellen. Zudem
sollte die räumliche Trennung 1937 vom IJJR, als das BIE in den Palais
Wilson zog, Unabhängigkeit demonstrieren. Das heisst nicht, dass
sich Piagets politische Überzeugungen geändert hätten.
Aber seine Angst um die Existenz der Institute veranlasste ihn zu einer
opportunistischen Politik, so dass auch faschistisches Gedankengut unter
dem Siegel des BIE kursierte. Kein Mitgliedsstaat wurde aufgrund seiner
Politik gerügt oder ausgeschlossen, auch nach dem 2. Weltkrieg nicht.
So wehrte sich Piaget 1964 gegen den Ausschluss Portugals wegen dessen
Kolonialpolitik, indem er die Präsidentschaft der Versammlung abgab.
Piaget hoffte, dass der Vergleich zwischen den Schulsystemen Mittel genug
sein würde, damit die Nationen ihre Erziehungswesen verbessern würden.
Dafür produzierte Vizedirektor Rossello von 1933 bis 1968 das Annuaire
international de l'éducation. Diese Dokumentation enthielt die
jährlichen Berichte der Erziehungsministerien, eine summarische Retrospektive
und daraus abgeleitete Diskussionsvorschläge zuhanden des Exekutivrates
des BIE, der damit die nächste Mitgliederversammlung vorbereitet.
Aufgrund dieser Diskussionen wurden unverbindliche Empfehlungen zur Schulorganisation
und Unterricht zuhanden der Regierungen der Mitgliedsstaaten verabschiedet. Die meisten Artikel Piagets zur Pädagogik, die er nach dem Krieg
verfasste, beschäftigten sich mit einzelnen Fächern, wobei die
Kompatibilität zur Entwicklungspsychologie das Hauptthema war. Als
Hauptprobleme der Mathematikdidaktik identifizierte Piaget die Passivität
der Schüler, das verfrühte Operieren mit Zahlen, die verfrühte
Abstraktion, der verbale Unterricht (Piaget 1949/6; 1950/1), die verfrühte
Formalisierung (Piaget 1965/1), die verfrühte Einführung der
Mengenlehre (Piaget 1966/12) und falsche Verknüpfungen, etwa bei
der Einführung der Zahlen mit Farben (Piaget 1976/9). In der Naturkunde
forderte er die Bewahrung der Einheit von Physik, Chemie und Biologie
und die Anwendung der induktiven und aktiven Methode (Piaget 1949/5; 1952/8).
Bei der klassisch-humanistischen Bildung plädierte er für eine
engere Verbindung der Kulturgeschichte mit den Sprachen, die weniger grammatiklastig
unterrichtet werden sollten (Piaget 1937/7). Die Geschichte sollte bei
den spontanen Einstellungen ansetzen, ein Instrument der Kritik sein und
eine Atmosphäre der Völkerverständigung schaffen (Piaget
1933/4). Der Kunstunterricht dürfe keinesfalls die Kreativität
unterbinden, sondern müsse eine "Synthese zwischen dem Ausdruck
des Ichs und der Unterwerfung unter die Realität" (Piaget 1954/16:
244) erzeugen. Die Philosophie befinde sich in einer Dauerkrise, weil
die Teilgebiete sich abspalten, sobald sie ein wissenschaftliches Niveau
erreichten. Da sie zwangsläufig einer Ideologie anhänge, solle
sie Unterrichtslektionen an die Psychologie abgeben (Piaget 1972b: 90,
1965/1: 65). Piaget veröffentliche etwa 40 Artikel über Erziehung und ebensoviele Reden und Berichte im BIE. Obwohl diese rund 1000 Seiten umfassen (sie entsprechen allerdings nur 3% von Piagets Gesamtwerk), meinte er in einem Interview: "Je n'ai pas d'opinion en pédagogie" (Piaget 1977: 194). Nichtsdestotrotz hoffte er, mit seiner Psychologie das Schulsystem und damit die Gesellschaft zu verändern zu verändern (Piaget 1973: 53). Deshalb engagierte er sich im Rahmen des BIE und der UNESCO fast vierzig Jahre lang für eine reformpädagogische Bildungspolitik. Unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Neutralität versuchte er, auf die Minister und Beamten in den Bildungsinstitutionen Einfluss zu nehmen, damit diese liberale Reformen durchsetzen. Ob die Empfehlungen solche Reformen beförderten, ist schwer einzuschätzen. Wahrscheinlich waren solche Effekte, wenn sie stattgefunden haben, eher zufällig. Auch sein Versuch, mit seiner Psychologie zum Theoretiker der neuen Schule zu avancieren, scheiterte. Dabei dürfte eine Rolle gespielt haben, dass er kein Buch über Pädagogik geschrieben hatte und sich seine Aussagen sich mit denjenigen von Claparède, Bovet und Ferrière weitgehend deckten. Jedenfalls hat sich sein Begriff der Kooperation nicht als Schlagwort durchgesetzt, im Gegensatz etwa zur école active' von Bovet/Ferrière. Piagets Anmerkungen zur Pädagogik blieben zudem oberflächlich, und diese betrifft auch Schlüsselbegriffe wie denjenigen der Kooperation'. Nirgends werden Bedingungen, genauere Definitionen oder Analysen diskutiert, obwohl er die Kooperation und damit die soziale Umwelt bis Mitte der 30er Jahre als entscheidenden Faktor in der moralischen und kognitiven Entwicklung betrachtete. Mit der Biologisierung und Mathematisierung seiner Psychologie ab Mitte der 30er Jahre verlor der Erziehungsfaktor zugunsten der autonomen Entwicklung des Kindes an Bedeutung. Ab 1950 definierte Piaget vier Entwicklungsmechanismen: die Reifung, die physischen Erfahrungen, der soziale Einfluss und die Äquilibration. Letztere wurde, im Sinne der Eigendynamik der Entwicklung, in seinem Spätwerk immer wichtiger. Der kulturelle Wissenserwerb folgt dem allgemeinen Muster logisch-mathematischer Denkstrukturen, die sich aus dem Handeln mit konkreten Objekten von selbst bilden und nicht gelehrt werden können. "Learning is not a primary mechanism and cannot adequately explain development [ ] One can hold that along with the mechanism of learning the presence of which we have never denied, there are internal mechanism of development, endogenous mechanism such as the mechanism of equilibration" (Piaget 1970/13: 2). Lernen setzt demnach Entwicklung voraus und wird zu einem untergeordneten Faktor. "The development of knowledge is a spontaneous process, tied to the whole process of embryogenesis. [ ] Learning presents the opposite case. In general, learning is provoked [ ] by an external situation. It is provoked, in general, as opposed to spontaneous. In addition, it is a limited process - limited to a single problem, or to a single structure. So I think that development explains learning" (Piaget 1964/2: 20). Obwohl sich der Erkenntnisapparat selbst in der Auseinandersetzung mit der Welt konstruiert, folgt die Entwicklung einem universellen und invarianten Muster und wird durch die Erfahrung nicht wirklich beeinflusst. Dies ist das logische Resultat seiner Immanenztheorie. Aufgrund der Lektüre von Léon Brunschvicgs Le progrès de la conscience dans la philosophie occidentale' von 1927 hatte Piaget seine religiöse Überzeugung radikalisiert: "Dieu est pensée. Il n'est pas un être mais la condition de l'existence, et la condition de l'existence c'est la pensée" (Piaget 1928/1: 34). Gott manifestiert sich aber nicht im subjektiven Denken, sondern nur in den Normen des logischen Denken. "L'immanentisme revient à identifier Dieu, non pas au moi psychologique, mais aux normes de la pensée elles-mêmes" (ebd: 36), welche universell und unpersönlich seien. "Au point de vue intellectuel, le moi est soumis aux normes de la raison [ ] Elles s'imposent au moi dès que l'individu renonce à l'affirmation personnelle pour se plier à l'objectivité. Du point de vu moral, le moi est également soumis à des normes, comme la réciprocité ou la justice. Ce sont là les normes rationnelles elles-mêmes, qui s'appliquent à l'action comme elles s'appliquent à la pensée. La morale est une logique de l'action, comme la logique est une morale de pensée. L'activité rationnelle est une" (ebd: 36f). Religion, Moral und Wissenschaft konvergieren bei der Bewusstwerdung der Normen des Denkens, die Gott, die Gerechtigkeit und Wahrheit verkörpern. "Au fur et à mesure de sa réflexion sur elle-même la pensée se transforme et s'épure" (ebd: 33). Die Erforschung der unpersönlichen Normen und ihrer Entstehung wird das allgemeine Forschungsprogramm von Piaget. Die ontogenetische Entwicklung und die Wissenschaftsgeschichte basieren auf dem gleichen Evolutionschema: "L'intériorisation de l'analyse spirituelle marche de pair avec l'extériorisation de l'invention scientifique" (Piaget 1930/3: 22). Damit entspricht der Immanentismus der höchsten Form des Denkens und der Moral, denn "l'immanentisme apparaît comme le prolongement de l'élan de spiritualisation qui marque toute l'histoire de la notion de divin. Du Dieu transcendant, doué de causalité surnaturelle, au Dieu purement esprit de l'expérience immmanente, le même progrès nous paraît s'accomplir que du Dieu semi-matériel des religions primitives au Dieu métaphysique. Or - et là est l'essentiel, à ce progrès dans l'ordre de l'intelligence correspond un progrès moral et social, c'est-à-dire, en fin de compte, un affranchissement de la vie intérieure" (ebd: 53f). Der Ursprung von Piagets Kognitionspsychologie ist folglich theologischer Natur. Paradoxerweise versuchten die Pädagogen in den 60er und 70er Jahren, seine deterministische Entwicklungspsychologie didaktisch umzusetzen. Und in den 90er Jahren rezipierten die Didaktiker seine angeblich konstruktivistische Erkenntnistheorie, die ebenso ambivalent ist wie die Lerntheorie. Piaget dachte zwar konstruktivistisch, wenn er die kognitive Entwicklung des Kindes und die Forschungstätigkeit des Wissenschaftlers reflektierte. Aber gleichzeitig ging er von einer objektiv gegebenen Realität aus, der sich die mentalen Konstruktionen aufgrund der Erfahrungen zwangsläufig annähern müssen. Diesem erkenntnistheoretischen Doppelstatus entsprechend ist das gesamte Werk Piagets durchzogen von der Ambivalenz zwischen dem Monismus (Reduktion des Geistes auf ein physisches Phänomen) und einem dualistischen Verständnis (der Geist hat eine eigenständige Realität: bei Piaget die universal gültigen, göttlichen Normen). Mit dem Postulat der psycho-physiologischen Isomorphie versuchte Piaget diesen Antagonismus zu überwinden, scheiterte aber damit. |